Tausend kleine Schritte

George Saunders über die Kunst der Überarbeitung

Wie wichtig es ist, seinen ersten Entwurf möglichst schnell und frei herunterzuschreiben, darüber ist schon viel gesagt worden. Dabei wird gerne Hemingway zitiert: "Der erste Entwurf ist immer Kacke."

George Saunders

Das stimmt auch. Wenn man eine Geschichte im Kopf hat, ist es am besten, man schreibt sie schnell auf — und gibt sich dabei Erlaubnis, schlecht zu schreiben. Darum funktionieren Schreibsprints wie NaNoWriMo und 1000 Words of Summer so gut. Irgendwo muss man ja anfangen, und viele Blockaden lösen sich, wenn man den inneren Kritiker knebelt.

Das wahre Geheimnis liegt in der Überarbeitung

Gut und schön — wir haben also unsere Rohfassung runtergeschrieben und müssen feststellen, dass Hemingway nicht unrecht hatte. Aber wie geht es nun weiter?

In Beim Regen im Teich schwimmen beschreibt George Saunders seinen Überarbeitungsprozess so:

Ich stelle mir ein Messgerät vor, das in meine Stirn montiert ist, auf der einen Seite der Skala steht P (»Positiv«), auf der anderen steht N (»Negativ«). Ich versuche, das Geschriebene so zu lesen wie jemand, der oder die es zum ersten Mal vor sich hat (»ohne Hoffnung, ohne Verzweiflung«). Ich frage mich: Wo steht die Nadel? Wenn sie in den N-Bereich geht, gib es zu. Dann könnte sich sofort eine Lösung anbieten - ein Strich, eine Umstellung, eine Ergänzung. Ganz ohne intellektuelle oder analytische Komponente; es ist mehr ein Impuls, der zu einem Gefühl führt wie »Ah ja, so ist es besser«.

So geht Saunders seinen Text durch, ändert, druckt aus, liest wieder: "Mit der Zeit ändert die Erzählung, wie ein Kreuzfahrtschiff, das langsam wendet, über diese Tausende schrittweiser Anpassungen allmählich den Kurs."

Vertrauen in den Prozess — und Geduld

Das klingt nach langwieriger Arbeit, aber in meiner eigenen Schreibpraxis und in der Arbeit mit Autor*innen erlebe ich immer wieder, wie kraftvoll dieser iterative Prozess ist. Es ist befreiend zu wissen, dass man nicht alles auf einmal richtig machen muss – die geduldige, schrittweise Überarbeitung führt uns durch diese tausend kleinen Anpassungen zu einer Version unseres Textes, in der plötzlich alle Elemente zusammenspielen.

Das Resultat fasst Saunders wunderbar zusammen:

Ich mag den Menschen, der ich in meinen Geschichten bin, viel mehr als mein echtes Ich. Dieser Mensch ist schlauer, gewitzter, geduldiger, lustiger - sein Blick auf die Welt ist weiser. Wenn ich mit dem Schreiben aufhöre und wieder zu mir zurückkehre, komme ich mir enger, rechthaberischer und kleinlicher vor. Aber was hat es mir für einen Spaß gemacht, im Text kurz mal weniger dämlich gewesen zu sein als normalerweise.


Übrigens: Falls du bei der Überarbeitung feststeckst, helfe ich gerne weiter. Und wer mehr von Saunders über das Schreiben lesen möchte, dem sei sein Newsletter "Story Club" empfohlen.

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